
Visionen haben ihre Wurzeln im Kleinen
„Nächstenliebe allein reicht nicht aus“, sagt Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen. „Sie ist aber die Basis für unsere Arbeit und der Kompass, der uns leitet.“
Es ist unruhig auf den Straßen. Immer mehr Menschen haben existentielle Sorgen. Die Kluft zwischen einer kleinen reichen Elite und dem Rest der Bevölkerung sorgt für Proteste im ganzen Land. Dazu kommen geopolitische Unruhen im europäischen Raum. Die Kriegsangst wächst - 1848 war ein Jahr des Umbruchs im damaligen Deutschen Reich.
Die industrielle Revolution veränderte das Gesellschaftssystem. Die Verstädterung und das rasante Bevölkerungswachstum sorgten für weitere soziale und gesellschaftliche Veränderungen. Die Armut breitete sich aus, die Lebensbedingungen verschlechterten sich.
Auch heute leben wir in einer Zeit des Umbruchs. Digitalisierung, Klimawandel, Krieg in Europa.
Die Folgen sind steigende Armut, Inflation, Zukunftssorgen und bei manchen auch das Gefühl, nicht gehört zu werden. Die Reaktionen auf die Veränderungen sind unterschiedlich: Die einen ziehen sich zurück und werden leise. Die anderen protestieren laut und überschreiten dabei teilweise auch gesellschaftlich legitimierte Grenzen.
Genau wie vor 175 Jahren brauchen wir auf diese Herausforderungen Antworten. Johann Hinrich Wichern hat auf dem Kirchentag in Wittenberg auf die desolate soziale Situation in Deutschland hingewiesen, den Finger in die Wunde gelegt und unserer Kirche den Spiegel vors Gesicht gehalten: Wer Nächstenliebe predigt, der sollte auch danach handeln. Mit seinem zentralen Satz „Die Liebe gehört mir wie der Glaube!“ rief er die evangelische Kirche auf, sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst zu werden.
Seine Rede hat viele Menschen begeistert und nachhaltigen Auftrieb gegeben. Engagierte Frauen und Männer haben in ganz Deutschland begonnen, neue soziale Einrichtungen im kirchlichen Umfeld zu gründen, häufig in der Rechtsform des eingetragenen Vereins. Sie haben sich vernetzt und dadurch gemeinsam etwas bewegt, Veränderung herbeigeführt. Zentrale Antriebskraft waren dabei das christliche Doppelgebot der Liebe und die sieben Werke der Barmherzigkeit. Die Jubiläumskampagne der Diakonie Deutschland greift diese Motivation in ihrer Kampagne auf: #ausLiebe. Aber reicht Liebe wirklich aus? Was bewirkt Liebe - christliche Nächstenliebe - in einer Gesellschaft, in der die eigenen Interessen immer gewichtiger zu werden scheinen?
Visionen haben ihre Wurzeln oft im Kleinen - in der Kirchengemeinde und der Gemeinwesendiakonie.
Wichern hat vor 175 Jahren die Professionalisierung der diakonischen Bewegung initiiert. Es ist eine Organisationsstruktur der Nächstenliebe entstanden, die bis heute alle gesellschaftlichen Umbrüche überstanden hat.
Der diakonische Verbund hat dabei immer wieder auf die neuen Lebenswirklichkeiten reagiert und versucht, den notwendigen Anforderungen verantwortungsbewusst zu begegnen. Das ist oft gelungen; aber es hat auch ein deutliches Zurückbleiben hinter dem eigenen Anspruch und dem Gottes und Schuld gegeben: in den Jahren der Nazi-Diktatur, in jedem einzelnen Fall von Gewalt und Missachtung elementarer Rechte in unseren Einrichtungen.
Viele Antworten auf die Frage, wie Menschen geholfen werden kann, haben zunächst unsere Kirchengemeinden gefunden: Aus der Gemeindeschwester mit dem Fahrrad haben sich ambulante Pflegestationen entwickelt. Aus ersten Angeboten im Rahmen der sozialen Beratung sind komplexe Angebote mit Spezialisierungen, unter anderem in den Bereichen der Schuldner- und Insolvenzberatung sowie der Suchtberatung geworden.
Auch heute haben neue Hilfsangebote ihre Entstehungsgeschichte oft im gemeindlichen Kontext. Ob in der Flüchtlingshilfe, in Kooperationsprojekten mit der örtlichen Tafel, Besuchsdiensten, Familienzentren oder der Jugendarbeit: In den Kirchengemeinden werden Visionen entwickelt, die zunächst im Kleinen ausprobiert werden. Bei
einer erfolgreichen Projektumsetzung verstetigen sich diese und finden über die Gemeindegrenzen hinaus Nachahmer.
Diese Graswurzelbewegung funktioniert weiterhin und verbindet die Menschen in unserer Gesellschaft, die die Interessen des Nachbarn mitdenken und sich füreinander einsetzen. Diese orts- und kirchennahe Diakonie bleibt wichtig für unsere Identität. In dieser Gemeinschaft wird sichtbar, dass wir der soziale Dienst der evangelischen Kirche sind. Zusammen engagieren sich bei uns hunderttausende Menschen für andere und übernehmen Verantwortung.
Daneben haben diakonische Vereine sich stark professionalisiert und haben Antworten auf konkrete soziale Fragen gesucht - und oft gefunden. Manche gründeten ein Krankenhaus, andere nahmen sich Menschen mit Behinderungen an, wieder andere kümmerten sich um gefährdete Jugendliche. Sie legten großen Wert auf gut ausgebildete Mitarbeitende und investierten früh in Bildung als eine Säule diakonischen Handelns.
Dieser Verbund aus gelebter Gemeindediakonie und den vielfältigen professionellen diakonischen Hilfssystemen
macht uns zum größten Wohlfahrtsverband. Diese gelebte Nächstenliebe ist ein zentraler Grundpfeiler unseres Sozialstaates.
Diakonie und Kirche werden mehr miteinander kooperieren, Prozesse optimieren und Bürokratie abbauen müssen.
Kleine Wurzeln haben es oft schwer am Leben zu bleiben, sich fest im Boden zu verankern und groß zu werden. Als Diakonie und Kirchen stehen wir uns manchmal auch selbst im Weg. An dieser Stelle müssen wir selbstkritischer
werden. Kirche, Gemeindediakonie und Unternehmensdiakonie agieren zu wenig koordiniert. Oft besteht ein Konkurrenzdenken - und manchmal stehen diakonische Einrichtungen auf dem Sozialmarkt auch in
Konkurrenz zueinander.
Wo die vorhandenen Ressourcen gemeinsam genutzt und notwendige Prozessstrukturen verschlankt werden, gelingt die Kooperation von Kirche und Diakonie. Hier werden Menschen auch heute noch von Kirche und Diakonie erreicht und individuelle Notsituationen gemeinsam gelindert. Diese Projekte werden von uns gerne in kleinen Handreichungen als Leuchttürme der Gemeinwesendiakonie präsentiert. Aber in der Wirklichkeit sorgen oft bürokratische Hürden auf beiden Seiten für eine Lähmung des sozialen Engagements. Mit Doppelstrukturen verlängern wir Prozesse und erschweren selbst innerhalb unserer kirchlich-diakonischen Familie notwendige Kooperationen. Hier werden wir mehr aufeinander zugehen müssen, um zukunftsfähig zu bleiben. Wir müssen unsere weniger werdenden Ressourcen effizienter nutzen.
Alles aus Liebe?
#ausLiebe - diese Kurzform suggeriert auf den ersten Blick: Ich arbeite aus purer Nächstenliebe. Keine Pflegekraft, keine Erzieherin und kein Erzieher, kein Mitarbeitender in unseren unterschiedlichsten diakonischen Einrichtungen wird das unterschreiben. Fachkräfte schauen heute zu Recht auf die Rahmenbedingungen. Sie erwarten tarifliche Entlohnung, eine angemessene Entschädigung bei notwendigem Mehraufwand, klar geregelte, familienfreundliche Arbeitszeiten und auch eine ehrliche Wertschätzung ihres Engagements - all das müssen sie in unserer diakonischen Familie bekommen und spüren. Zudem geht es darum, dass fachliche Knowhow der diakonischen Expert*innen in Pflege, Jugendhilfe und Beratung wahrzunehmen und sich daran zu freuen.
Die Grundmotivation von Haupt- und Ehrenamtlichen ist fast immer das Bedürfnis, sich für andere zu engagieren und im sozial-gesellschaftlichen Bereich Verantwortung zu übernehmen und sinnstiftend tätig zu sein.
Das christliche Wording dafür ist sicherlich das heute etwas sperrige Wort Nächstenliebe, das die Diakonie Deutschland in ihrer Kampagne mit dem Hashtag #ausLiebe ausdrückt. Nächstenliebe allein reicht nicht aus: Aber sie ist unser Kompass. Sie gibt uns die Richtung vor. Sie bildet den Rahmen, in dem sich unser Tun bewegt.
Lassen Sie uns in diesen Tagen - in denen so viel Schatten auf unserer Welt liegt, in denen Sorgen und Ängste Hochkonjunktur haben, in denen sich oft Trostlosigkeit Raum sucht in unseren Gemütern - von den guten Botschaften berichten: Von Menschen die Zivilcourage zeigen, die in unseren Quartieren Verantwortung übernehmen, sich untereinander vernetzen und sich für andere einsetzen. Mit ihnen gemeinsam werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass wir eine Gesellschaft sind, an der möglichst alle teilhaben können.
Und lassen Sie uns dies im Sinne Wicherns tun: „Nur der kann sich der Not in ihrer ganzen Breite entgegenstellen, der den Mut hat zur ersten kleinen Tat.“ Lassen Sie uns mutig in die Zukunft gehen, lassen Sie uns mutig der Not entgegentreten und setzen wir uns gemeinsam für eine soziale und gerechte Gesellschaft ein.