Wunden versorgen auf der Straße

Unterwegs mit der Straßensozialarbeit der Diakonie in Göttingen

Ich wollte schon immer etwas Ehrenamtliches machen, das auch wirklich sinnstiftend ist“, sagt Andrea Schmidt. Und das, obwohl sie schon beruflich etwas sehr Sinnstiftendes tut – sie ist Pflegedienstleitung im Evangelischen Krankenhaus Göttingen-Weende. Doch Andrea Schmidt wollte noch mehr tun. Und so rief sie bei der Straßensozialarbeit der Diakonie an. Warum gerade da? Die 52-Jährige überlegt. „Die Frage, warum Menschen auf der Straße leben, hat mich schon immer interessiert. Auch wenn ich diese Frage natürlich nie stelle. Das ginge zu weit.“ Statt die Menschen auszufragen, bietet sie zusammen mit Straßensozialarbeiter Daniel Rainers Gespräche an. Ganz unverbindlich und ohne Druck. Und sie steht bereit, wenn jemand medizinische Fragen hat.


Einmal in der Woche ziehen die beiden los durch die Straßen von Göttingen. Mal zwei, mal drei Stunden lang. Mit rund zehn Klient*innen kommen sie dabei in Kontakt. Um das zu tun, hat Andrea Schmidt sogar im vergangenen Jahr ihre Arbeitszeit reduziert und damit auch einen geringeren Lohn in Kauf genommen. Inzwischen arbeitet sie wieder Vollzeit – die ehrenamtliche Arbeit aber macht sie weiter. „Dafür arbeite ich dann an anderen Tagen länger.“ Und als wäre das nicht genug, hat sie sogar noch ein Studium der sozialen Arbeit aufgenommen. Um den Menschen auf der Straße noch besser helfen zu können.


Die Tour der beiden beginnt in der Turmstraße. Dort treffen sich „Menschen mit vielen verschiedenen Problemen“, wie Daniel Rainers sagt. Dort gibt es den Mittagstisch und die offene Drogenszene. Auf der Straße hat an diesem Tag niemand Gesprächsbedarf. Und beim Mittagstisch selbst? „Ich hab Andrea mitgebracht“, sagt Rainers einer Frau mit hellen Haaren und Käppi, die ihre Suppe im Stehen löffelt. „Also wenn du medizinische Fragen hast …“ Die Frau schüttelt den Kopf. Andrea Schmidt und Daniel Rainers verabschieden sich und gehen weiter – da fällt der Frau doch etwas ein: „Neulich wollten sie mich wieder in die Psychiatrie bringen.“ Dann erzählt sie von ihrer Familie, ihrer Vergangenheit, davon, dass sie vielleicht „manchmal zu altruistisch“ sei. „Auch auf der Straße ist es wichtig, dass du auf dich selbst gut aufpasst“, gibt ihr der Streetworker mit auf den Weg. Andrea Schmidt nickt zustimmend. An dieser Stelle war kein medizinischer Rat gefragt. Aber ein offenes Ohr. Und umso schöner ist es doch, wenn gleich zwei Menschen zuhören, statt wie so oft kein einziger.

An einer Kirche treffen sie auf Karl (Namen der Klienten geändert). Ein „Querulant“ hat ihm seinen Stammplatz streitig gemacht, berichtet er gerade, als Ben sich mit seinem Rollstuhl nähert. „Wie geht’s dir?“, fragt die gelernte Krankenschwester. Ben war ihr erster Klient, als sie im vergangenen Sommer mit ihrem Ehrenamt begann. Da waren ihm gerade die Beine amputiert worden. Sie wechselte seine
Verbände.


Wenn sie Wunden versorgt, trägt Andrea Schmidt Handschuhe. Hygiene ist wichtig. Und sie muss sie recht häufig tragen. „Viele Klient*innen haben offene Füße“, erklärt sie. „Das passiert ganz schnell, wenn man Tag und Nacht dieselben Schuhe trägt und vielleicht auch nicht regelmäßig duschen kann.“ Dann sei schnelles Handeln gefragt, damit es nicht zu einer Blutvergiftung kommt.
Manchmal benötigen die Männer und Frauen dann auch ein Antibiotikum. So wie Alex, den sie ein paar Straßen weiter treffen und dessen Wunden an den Zehen Andrea Schmidt begutachtet. „Die neuen Schuhe und das Sauberhalten der Füße haben gut geholfen“, stellt sie fest. Die Schuhe hat er sich selbst gekauft. Daniel Rainers hat bei der Auswahl geholfen, damit sie auch schön weich sind und nicht auf die Wunden drücken. Zum Arzt muss er trotzdem, sagt die Krankenschwester. Die Nebenwirkungen der Medikamente abklären. Der Streetworker zückt seinen Kalender und vereinbart gleich einen Termin mit Alex, wann sie zusammen zum Arzt gehen.


Allein, sagt Andrea Schmidt, würden viele gar nicht erst zum Arzt gehen. Weil sie die Notwendigkeit nicht sehen oder das Gefühl für ihren Körper oder die Zeit verloren haben. Im Team der Diakonie arbeiten auch zwei Ärztinnen ehrenamtlich. Für die, die keine Krankenversicherung mehr haben, weil sie sie nicht mehr bezahlen konnten. Dann zahlt die Kasse nur bei Notfällen, nicht aber zur Kontrolle, erklärt der Sozialarbeiter, der sich mit den rechtlichen Fragen des Lebens auf der Straße auskennt. „Wenn es um die Medizin geht, ist Andrea die Ansprechpartnerin“, sagt er. „Es ist ein gutes Gefühl, jemanden dabeizuhaben, der sich auskennt.“ Das freut auch die Menschen auf der Straße. Oder wie es eine Klientin im Rollstuhl ausdrückt: „Ach, wenn es doch mehr Leute wie Andrea gäbe.“