Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen:
„Dass es beim Sozialstaat Reformen braucht, die ihn zukunftsfest machen, steht außer Frage. Er muss weiterentwickelt und weniger bürokratisch werden.
Mir bereitet es jedoch Sorge, dass nahezu täglich wichtige Errungenschaften, die unseren Sozialstaat aus- und stark machen, von unterschiedlichen Akteuren aus Politik und Wirtschaft zur Disposition gestellt werden. Wir können und müssen uns den Sozialstaat leisten!
Man kann nicht nur sagen, dass die Kosten für die sozialen Systeme aus dem Ruder laufen. Mindestens genauso richtig ist doch, dass sich die finanziellen Rahmenbedingungen aufgrund der
sicherheitspolitischen Lage geändert haben und die notwendigen Kosten, z.B. für die Stärkung der inneren und äußeren Sicherheit Spielräume in den anderen Politikfeldern erheblich einengen – und das eben auch in der Sozialpolitik.
Der Sozialstaat ist nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch und vor allem ein demokratiestabilisierender Faktor. Davon bin ich fest überzeugt und verstehe die Äußerungen von Kanzler Merz nicht. Einsparungen beim Bürgergeld werden den Haushalt nicht konsolidieren.
Wir wissen, dass wir in Zeiten knapper Kassen leben. Das sollte aber nicht dazu führen, dass wir nur über Kürzungsszenarien diskutieren und aus ideologischen Gründen weder die Verbreiterung der Beitragsbasis noch Alternativen in Sozialversicherungssystemen anschauen.
Wir müssen deshalb dringend auch über andere Finanzierungsarten für den Sozialstaat sprechen. Dazu gehören für mich zum Beispiel das Stopfen von Steuerschlupflöchern und eine konsequente Verfolgung bei Steuerhinterziehung. Gerade bei der Steuerhinterziehung verliert der Staat jährlich nach Schätzungen zwischen 75 und 125 Milliarden Euro an Steuergeldern.
Genauso wäre die Einführung einer Vermögenssteuer ein weiterer Finanzierungsbaustein, den man ernsthaft diskutieren müsste. Immerhin gibt es allein in Deutschland 130 sogenannte Superreiche, die zusammen einen Vermögenszuwachs von 26,8 Mrd. Dollar in 2024 erzielten. Die Milliardenvermögen haben sich entweder durch einen Wertzuwachs bei Vermögensbeständen wie Unternehmensaktien oder durch die Übernahme bestehenden Familienvermögens, also dem klassischen Erbe ergeben.
Diskutiert werden derzeit nur Sparmaßnahmen, die auf Kosten der Allgemeinheit gehen, wie Karenztage im Krankheitsfall, die Kontaktgebühr für Arztbesuche oder auch die Karenzzeit in der Pflege. Für uns ist klar, dass diese Ideen nicht die Lösungen für einen zukunftsfesten Sozialstaat sein können. Sie sind einseitig gedacht und belasten hauptsächlich Menschen mit wenig Einkommen.
Gerade für Menschen mit wenig Einkommen ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eine wichtige soziale Absicherung. Sollte hier gespart werden, wird sich die Armutsgefährdung weiter verschärfen und damit auch die soziale Spaltung der Gesellschaft. Das kann eigentlich niemand wollen und sollte in der Diskussion mitbedacht werden.
Ebenso ist die Kontaktgebühr für Arztbesuche nicht zielführend. Sie wird nicht die Kosten im Gesundheitssystem senken. Gerade bei Menschen mit geringem Einkommen kann sie dazu führen, dass relevante Arztbesuche verzögert und Diagnosen verspätet gestellt werden.
Wir sollten viel eher darüber nachdenken, ob die Zweiteilung der Krankenversicherung in gesetzlich und privat noch zeitgemäß ist oder wie wir gute Rahmenbedingungen für eine sinnvolle Patientensteuerung und die Stabilisierung des Versorgungsniveaus schaffen können, Die Idee der Bundesgesundheitsministerin, ein Primärarztsystem einzuführen, ist ein möglicher Schritt in die richtige Richtung. Aber auch hier gilt: Bevor das aufgegleist werden kann, muss sichergestellt sein, dass die vorhandenen personellen Ressourcen dafür auch ausreichend sind.
Besonders kritisch sehe ich die Forderung, ein Karenzjahr in der Pflege einzuführen. Das Pflegesystem muss dringend reformiert werden. Das fordern wir seit Jahren. Aber nicht auf Kosten der zu Pflegenden. Schon jetzt ist Pflege ein eklatantes Armutsrisiko. Im Schnitt bezahlen die zu Pflegenden bzw. deren Angehörige rund 3.000 Euro Eigenanteil in der stationären Pflege. Je nach Pflegegrad und pflegefachlichem Schwerpunkt beläuft sich der Eigenanteil sogar auf bis zu 4.000 Euro.
Der Anteil der Menschen, die ‚Hilfe zur Pflege‘ beantragen müssen – also Sozialhilfe – ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Die DAK prognostiziert für 2026 den Anteil der Sozialhilfeempfänger*in-nen in Pflegeheimen auf 36 Prozent. Sollte das Karenzjahr in der Pflege kommen, wird der Anteil an Sozialhilfeempfänger*innen massiv ansteigen. Damit wird dann vielleicht die Pflegeversicherung entlastet, aber die Sozialämter überrannt. Damit lösen wir das Finanzierungsproblem nicht, sondern verlagern es nur.
Deshalb verstehe ich nicht, dass gangbare und auch wissenschaftlich hinterlegte Wege einer finanzierbaren Pflegeversicherung nicht ernsthaft diskutiert werden, wie z.B. die Verbreiterung der Einnahmeseite bei der Pflegeversicherung. Nicht nur klassische Arbeitseinkommen sollten für die Beitragsberechnung einbezogen werden, sondern auch andere Einkommensarten wie Kapitalerträge und Mieteinnahmen. Diese Vorschläge liegen seit Jahren auf dem Tisch, werden aber nicht umgesetzt.
Neben den Vorschlägen im Gesundheitsbereich flammt auch immer wieder die Diskussion um das Bürgergeld auf. Das Narrativ, dass das Bürgergeld zu hoch sei und Arbeit sich nicht mehr lohne, wurde so oft schon widerlegt, dass ich die politischen Akteure nicht mehr verstehe, die dieses Narrativ immer und immer wieder bedienen. Mir scheint, dass es ihnen letztlich darum geht, verschiedene Gruppen gegeneinander auszuspielen. Das sehe ich sehr kritisch.
Es ist ein fatales Signal, wenn Politiker*innen vermitteln, jeder, der Bürgergeld bezieht, ist faul und verweigert sich der Arbeit. Es gibt einen nicht unerheblichen Anteil an Familien, denen ein Vollzeitjob schlicht nicht ausreicht, um das tägliche Leben zu bezahlen. Diese Menschen müssen aufstocken trotz Erwerbstätigkeit. In anderen Fällen wollen Menschen gerne arbeiten, können dies aber nicht - etwa, weil die Betreuung der Kinder nicht geregelt werden kann oder weil sie sich um die Pflege von Angehörigen kümmern. Natürlich gehört zum Gesamtbild auch ein kleiner Teil an Totalverweigerern - aber alle Bürgergeldempfänger*innen in dieses Licht zu rücken, ist schlicht diskriminierend.
Natürlich braucht es gerade im Bereich der Sozialleistungen Strukturreformen. Viele der Leistungen müssen an unterschiedlichen Stellen beantragt werden, hier herrscht ein bürokratisches Wirrwarr, das dringend neu strukturiert und auch digitalisiert werden muss. Daraus können sich Synergieeffekte er-geben, die auch dazu führen, dass Kosten in nennenswertem Umfang eingespart werden können. Und das wäre übrigens für alle wichtig: Für diejenigen, die Leistungen beantragen, aber auch für unseren Sozialstaat.
Denn das Geld, das bis jetzt in die Bürokratie fließt, könnte dort eingesetzt werden, wo es eigentlich eingesetzt werden sollte: Bei den Menschen, die die Unterstützung dringend benötigen.
Ich bin der Überzeugung, dass jede Investition in die soziale Infrastruktur eine Investition in eine demokratische, starke und positive Zukunft ist. Ein starker Sozialstaat schützt die Menschen bei existentiellen Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit. Jede*r Bürger*in muss sich auf eine soziale Absicherung im Notfall verlassen können. Und das ist gut und schützenswert! Denn das schafft Vertrauen und zeigt: Du wirst nicht alleingelassen.“