Mit einem Stollen fing alles an

Die 97-jährige Annemarie Streit kümmert sich um Wohnungslose

„Meine Jungs sind viel höflicher als viele andere da draußen“, sagt Annemarie Streit über „ihre“ Wohnungslosen. Alle drei Wochen besucht sie sie im Mecki-Laden am Raschplatz in Hannover. Und sie kommt nicht mit leeren Händen: 80 gekochte Eier hat sie meist dabei, dazu Süßigkeiten, Cocktailtomaten und allerhand andere Leckereien. „Sie sollen doch mal Abwechslung haben“, sagt Annemarie Streit. 97 Jahre ist sie alt – und will weiter machen, „bis ich tot umfalle“. 

Schon seit mehr als 40 Jahren engagiert sich die Hannoveranerin für Wohnungslose. Lange Zeit gemeinsam mit ihrem Bruder. Doch auch nach dessen Tod hat ihr Engagement nicht nachgelassen. „Vor Mitternacht komme ich selten ins Bett“, sagt sie. Schließlich versorgt sie die Wohnungslosen nicht nur mit Frühstück, sondern auch mit selbst gestrickten Socken und Schals. Und mit all der Garderobe, die ihr Freund*innen und Bekannte vor die Tür stellen. „Wenn ich die Tüten durchsehe, ist das auch für mich immer wie Weihnachten – man weiß ja nie, was drin ist. Aber sauber und gebügelt sind die Sachen immer, das ist mir auch ganz wichtig.“ 

Wenn die 97-Jährige mit ihrem Rollator in den Kontaktladen kommt, freuen sich die Menschen. „Sie sind eine gute Fee“, sagt eine Frau mit Mütze, nimmt ihre Hand und scheint sie gar nicht mehr loslassen zu wollen. Körperkontakt wie dieser stört Annemarie Streit nicht. Überhaupt kennt sie keine Berührungsängste, wenn es um die Menschen geht, um die andere auf der Straße oftmals einen Bogen machen. „Wenn sich jemand abfällig über diese Menschen äußert, erzähl ich dem aber was“, sagt sie energisch. Und fügt ein bisschen stolz hinzu: „Einen habe ich mal bekehrt. Der sagte dann ,meine Hochachtung‘ zu mir.“ 

 

 

Warum sie sich so engagiert, wisse sie selbst nicht so genau. „Wir sind alle nackig gekommen, und so gehen wir auch wieder. Warum soll man da zwischen den Leuten einen Unterschied machen?“ Angefangen hat alles mit einem Stollen, sagt sie. Den habe sie nicht gemocht und dann einem Wohnungslosen geschenkt, der sich gefreut hat. Und dann kam eins zum anderen: Sie setzte sich neben Wohnungslose auf die Parkbank und fragte sie, was sie bräuchten. „Einen hab ich immer mit Rätselheften versorgt. Da kommt man ja nicht drauf, wenn man nicht fragt.“ Bei drei Paaren, die das Obdachlosen-Magazin Asphalt verkaufen, war sie schon Trauzeugin. Und auch bei Beerdigungen von Wohnungslosen war sie schon. „Es geht ja immer um Respekt“, sagt sie. 

Deshalb würde sie auch nie auf die Idee kommen, jemanden zu duzen, der es nicht ausdrücklich angeboten hat. Und deshalb kauft sie auch regelmäßig neue Unterwäsche, um sie mitzubringen. „Alles andere wäre doch eine Frechheit.“ Und als sie noch besser laufen konnte und ein Wohnungsloser sich wünschte, mit ihr in die Oper zu gehen, hat sie auch das getan. „Den hab ich vorher schick angezogen und dann sind wir los.“ 

Vom Land Niedersachsen wurde Annemarie Streit im vergangenen Jahr mit dem „Niedersachsen-Preis für Bürgerengagement“ ausgezeichnet. „Da habe ich natürlich auch zwei Wohnungslose mit hingenommen. Die sollen doch auch mal was Schönes erleben.“