
Wenn der Alkohol die Macht übernimmt

Alexandra B. leitet eine Selbsthilfegruppe für Suchterkrankungen
„Meine Kindheit war geprägt von Alkohol und Gewalt – beide Eltern waren Alkoholiker.“ Wenn Alexandra B. das erzählt, steigen keine Tränen in ihr auf, ihre Stimme ist fest, sie klingt abgeklärt. Die zierliche Frau hat sich mit ihrer Geschichte arrangiert – und sie schon oft erzählt. Denn Alexandra B. leitet die offene Gruppe der Selbsthilfegruppen für Suchterkrankungen des Diakonischen Werkes im Landkreis Schaumburg.
Die Selbsthilfegruppe ist offen für Betroffene, Angehörige und Interessierte – egal, ob es um Alkohol, Drogen, Medikamente oder Glücksspiel geht. Jeden Montag treffen sich sechs bis 22 Teilnehmer*innen in den Räumen in der Bahnhofstraße in Stadthagen. „Wer eine ambulante Therapie machen will, muss mindestens sechsmal kommen. Um zu zeigen, dass er oder sie wirklich bereit ist, etwas zu tun, um von der Sucht loszukommen“, erklärt B.
Mit acht Jahren, erzählt die 54-Jährige, habe sie zum ersten Mal bemerkt, dass in ihrer Familie etwas anders ist als in anderen Familien: „Bei meinen Freunden war es immer harmonisch, bei uns nicht.“ Als sie 12 Jahre alt war, ließen sich ihre Eltern scheiden. Bis dahin, sagt sie, war ihr Vater Quartalstrinker. Nach der Scheidung trank er immer mehr und immer öfter. Mit 15 begriff sie, dass er alkoholkrank war. „Ich traute mich nicht mehr, Freunde mit nach Hause zu bringen, weil ich nicht wusste, was passiert. Er stand schon morgens betrunken in der Küche. Ich dachte, ich halte das nicht mehr lange aus.“ Ausgehalten hat sie es dann doch, bis sie 21 war. Dann zog sie mit ihrem Freund zusammen – dessen Vater ebenfalls Alkoholiker war.
Damals hat sie sich zum ersten Mal an die Suchtberatung der Diakonie gewandt. „Ich wollte wissen, wie ich meinem Vater helfen kann. Der Therapeut erklärte mir, mein Vater müsse sich selbst helfen wollen. Und ich solle auf mich aufpassen.“ Vielleicht, überlegt sie, habe er schon etwas geahnt: „Ich wusste, ich will nie so werden wie meine Eltern“, sagt Alexandra B. Aber einmal im Jahr, beim Schützenfest, habe sie so viel getrunken, dass sie danach drei Tage krank war. Das war der Anfang. Mit 34, sie war inzwischen von ihrem Freund getrennt und mit einem anderen Mann verheiratet und selbst Mutter, war sie dann doch abhängig.
„Ich hatte eine kleine Tochter, habe halbtags gearbeitet, mein Vater bekam einen Schlaganfall, von dem er sich nicht mehr erholte. Das alles war mir zu viel. Da dachte ich, ein Glas Wein am Abend könne beim Einschlafen helfen. So ging die Geschichte los.“ Irgendwann war es dann nicht mehr nur das Glas Wein am Abend. Irgendwann musste sie schon mittags zur Flasche greifen, um durch den Tag zu kommen. „Da habe ich gemerkt, ich habe ein Problem.“ Den Alkoholgeruch habe sie versucht, mit Pfefferminzbonbons zu überdecken. „Aber das klappt nicht – wenn man viel trinkt, riecht man durch die Haut.“
Ihr Vater starb, ein Jahr später verlor sie auch ihre Mutter, beide durch Folgeerkrankungen ihrer Alkoholabhängigkeit. „Dann kam meine exzessive Phase“, sagt Alexandra B. Schon morgens vor der Arbeit trank sie Alkohol, suchte immer neue Verstecke für die Flaschen, suchte Wege, die leeren heimlich zu entsorgen. Eines Tages konnte sie ihre Zigarette nicht mehr anzünden, weil sie ohne Alkohol so stark zitterte. „Ich hab‘ mir jeden Tag gesagt, morgen hol‘ ich mir Hilfe – und hab‘ es dann doch wieder verschoben.“ Ihr Mann legte ihr Flyer auf den Tisch, auf denen stand, wo es Hilfe für sie gab. „Da wurde ich wütend und habe gesagt, ich hole mir Hilfe, wenn ich es will.“
Dann kam der 28. April 2010. Ein Datum, das sie nie vergessen wird, wie sie sagt. Denn an diesem Tag bekam sie bei der Arbeit einen Nervenzusammenbruch. Sie gestand einer Kollegin, dass sie Alkoholikerin ist und bat sie, sie zum Arzt zu fahren. Der ließ sie in eine Klinik bringen, zur Entgiftung. „Abends zitterte ich, nachts hatte ich Krämpfe, Übelkeit – Entgiftung halt.“ Ihr Mann und ihre Tochter besuchten sie am nächsten Tag. Vor deren Augen bekam sie einen Krampfanfall, fiel bewusstlos zu Boden. „Das war so anstrengend für den Körper – und so peinlich für mich vor meiner Tochter.“
Aber ab da ging es aufwärts. Nach zehn Tagen kam sie für drei Wochen von der geschlossenen auf die offene Station, blieb dort für drei Wochen. Die Diakonie stellte für sie den Antrag zur Langzeittherapie, anschließend ging sie ein Jahr lang regelmäßig zur Nachsorge zu den Gruppensitzungen bei der Diakonie.
Über die ELAS, die Evangelische Landesarbeitsgemeinschaft für Suchtfragen in Niedersachsen, einen Fachverband der Diakonie, ließ sie sich zur freiwilligen Suchtkrankenhelferin ausbilden. „In dieser Zeit haben sich viele Puzzleteile für mich zusammengesetzt“, sagt Alexandra B. „Das hat zum Teil mehr gebracht als die eigentliche Therapie vorher.“ Einen Moment lang hält die 54-Jährige inne. Dann sagt sie: „Ich bin froh, dass ich es mit dem kompletten Hilfepaket der Diakonie geschafft habe, aus der Sucht auszusteigen. Meine Familie ist diesen Weg leider nicht gegangen.“ Auch ihr Bruder war inzwischen an den Folgen seiner Alkoholabhängigkeit gestorben.
Seit inzwischen fünf Jahren leitet sie nun die offene Gruppe der Selbsthilfegruppen. „Man hat mir geholfen, jetzt kann ich selbst helfen“, nennt sie ihre Motivation zu dem Ehrenamt. Viele, sagt sie, kommen direkt aus der Entgiftung in die offene Gruppe. „Der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist das A und O, um nicht rückfällig zu werden“, sagt sie. „Damit man nicht vergisst, dass man ein Problem hat. Sonst denkt man ganz leicht, ach, es geht mir doch gut, da kann ich mal ein Gläschen trinken.“ In einer Selbsthilfegruppe brauche sich niemand zu schämen. „Da sind alle gleich“, sagt B., die froh ist, den Weg über die Selbsthilfe gegangen zu sein: „Wäre ich nicht zur Diakonie gegangen, wäre ich heute nicht, wo ich jetzt bin.“