Beim Townhall-Meeting „Trotzdem Pflege. Für jeden, zu jederzeit.“ der Diakonie in Niedersachsen und dem Deutschen Evangelischen Verband für Altenarbeit und Pflege e.V. (DEVAP) am 21. Januar 2025 diskutierten Bürger*innen, Expert*innen und Interessierte mit den Verbänden und den Bundestagskandidierenden über die Zukunft der Pflege.
Bei einem Punkt waren sich alle Teilnehmenden einig: Ohne Sofortmaßnahmen zur finanziellen Sicherung der Pflege und eine grundständige und legislaturübergreifende Pflegereform wird es bald keine professionelle Pflege mehr geben. Wie eine Reform der Pflegeversicherung aussehen soll, darüber wurde konstruktiv, aber auch sehr engagiert diskutiert.
Lösungsideen und Vorschläge zu einer grundständigen Reform gibt es. Das zeigt auch das Strategiepapier des DEVAP, das zu Beginn der Veranstaltung vom Vorsitzenden des diakonischen Fachverbandes, Wilfried Wesemann, vorgestellt wurde. „Nur der Mut versicherungsfremde Leistungen in der Pflegeversicherung - wie die Ausbildungskosten, die Behandlungspflege in der stationären Versorgung und die Corona-Ausgaben – endlich über Steuermittel auszugleichen bzw. vom eigentlich zuständigen System tragen zu lassen, fehlt trotz Zusicherung im Koalitionsvertrag“, stellt Wesemann ernüchtert fest.
„Die Zahlungsfähigkeit der Pflegeversicherung wird trotz der Erhöhung ab 01.01.2025 um 0,2 Prozent bereits im Jahr 2026 nicht mehr sichergestellt sein, zugesicherte Bundesmittel für versicherungsfremde Leistungen wurden nicht gewährt und der Bundeszuschuss bis 2027 gestrichen. Die Versorgungssicherheit kann so kaum mehr sichergestellt werden“, so der DEVAP-Vorsitzende weiter. „Dieses Spardiktat muss endlich enden.“
„Das ‚Nicht-Handeln‘ der Bundesregierungen hat mittlerweile volkswirtschaftliche und demokratiegefährdende Konsequenzen. Dies belegen auch die Ergebnisse der DEVAP Umfragen zur Versorgungssicherheit“, so Wesemann.
Zwei Drittel der ambulanten und stationären Träger mussten ihre Angebote aufgrund fehlenden Personals reduzieren. 47 Prozent der stationären Einrichtungen konnten in den letzten sechs Monaten Betten nicht belegen. 85 Prozent der ambulanten Dienste mussten Neukunden ablehnen und 30 Prozent der ambulanten Bestandskunden können ihre Leistungen nicht aufstocken. Die Nachbesetzung von offenen Personalstellen ist in der ambulanten Pflege besonders schwer: 32 Prozent gaben als Dauer neun bis zwölf Monate an; 28 Prozent sogar mehr als zwölf Monate.
Für die Bewohner*innen von stationären Pflegeeinrichtungen und deren Angehörigen wird Pflege zunehmend zur Armutsfalle. In Niedersachsen beträgt die durchschnittliche Rente für Männer 1.366 Euro. Frauen erhielten 2023 im Schnitt 1.075 Euro. Der Eigenanteil für einen Pflegeplatz beträgt in Niedersachsen jedoch inzwischen rund 2.300 Euro. Die riesige Lücke ist offensichtlich. Deshalb bleibt für viele zu Pflegenden nur noch die Beantragung der „Hilfe zur Pflege“ – also Sozialhilfe. Als monatlichen Barbetrag, über den die zu Pflegenden selbst verfügen können, erhalten sie 152 Euro. „Das ist ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Menschen müssen an ihrem Lebensabend in einer Altenhilfeeinrichtung meist von einem Taschengeld leben - bitter“, stellt Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen fest.
„Pflegebedürftigkeit ist weiterhin ein Armutsrisiko. Auch deshalb ist ein Systemwechsel nach 30 Jahren Pflegeversicherung unausweichlich. Pflege gehört zu den BIG FIVE Herausforderungen unserer Zeit – dies bestätigt auch eine aktuelle Forsa-Umfrage. Alle demokratischen Parteien sind gefordert, auch die Stärkung des Sozialstaats im Fokus ihrer Planungen zu haben und damit die Demokratie zu sichern“, ergänzt Wesemann.
Dass gerade der Personalmangel neben den finanziellen Schwierigkeiten die Einrichtungen vor große Herausforderungen stellt, konstatiert Andrea Hirsing, Bereichsleitung Pflege und Gesundheit bei der Diakonie in Niedersachsen und Vorstandsmitglied des DEVAP:
„Die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal müssen dringend verbessert werden, um den Job für den Nachwuchs attraktiv zu gestalten. Dazu gehört auch, die pflegefachlichen Kenntnisse anzuerkennen und die Pflegekräfte als gleichwertige Teammitglieder im Bereich Gesundheit und Pflege in die Arbeit einzubinden.“
„Bis 2035 werden rund 40 Prozent der derzeit in Niedersachsen registrierten Pflegekräfte in den Ruhestand gehen. Diesen Weggang können wir nicht nur mit Nachwuchskräften kompensieren. Dazu benö-tigen wir auch Fachkräfte aus dem Ausland. Hier fordern wir die Parteien auf, Lösungen für die schneller Anerkennung von Berufsabschlüssen zu finden.
Was uns bei der Gewinnung von Fachkräften allerdings nicht hilft, sind Debatten darüber, welche Personen, wann abgeschoben werden sollen. Das steigert die Attraktivität des Arbeitgeberstandorts Deutschland meiner Einschätzung nach nicht“, so Andrea Hirsing weiter.
Das sieht der niedersächsische Diakonie-Chef ähnlich: „Wir benötigen dringend Verstärkung im Pflegebereich und ausländische Fachkräfte sind dabei ein wichtiger Pfeiler, um die Versorgungssicherheit gewährleisten zu können. Aber wenn man ehrlich ist, wird auch die Unterstützung durch die ausländischen Fachkräfte nicht ausreichen. Deshalb benötigen wir neben der Steigerung der Attraktivität des Berufsfeldes und der Fachkräfteanwerbung im Ausland eine weitere dritte Säule: Die Stärkung von digitalen Innovationen. Digitale Tools können die Pflegekräfte bei ihrer Arbeit unterstützen, sei es durch eine Sprachapp, die die Dokumentation erleichtert – gerade für ausländische Fachkräfte ein gute Unterstützungsmaßnahme – Sozialroboter oder durch radar- und KI-gestützter Betreuungsroboter. Als Diakonie leisten wir hier einen Beitrag, indem wir unter anderem digitale Innovation, wie den Probeeinsatz des radar- und KI-gestützten Betreuungsroboter Bearcover finanziell unterstützen“, erläutert Lenke. Doch das reiche eben noch nicht, so der Diakonie-Chef weiter. „Wir brauchen eine zuverlässige und auskömmliche Finanzierung von IT-Personalstellen, die die digitalen Tools warten und deren Sicherheit gewährleisten können.“
Wilfried Wesemann stellt abschließend fest: „Gemeinsam werden wir alle Zeit, Kraft und auch Geld investieren müssen, um einen Kollaps des Systems zu verhindern. Das Ziel muss eine Pflegevollversicherung sein, die den Pflegebedarfen von Menschen Rechnung trägt, unabhängig vom Wohnort, von ambulanten oder stationären Versorgungssettings. Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen.“
Informationen zum Townhall-Meeting:
Beim Townhall-Meeting „Trotzdem Pflege. Für jeden, zu jederzeit.“ diskutierten folgende Personen mit den ca. 80 Gästen über Fachkräftestrategie, Digitalisierung sowie Finanzierungmodelle der Pflegeversicherung:
Wilfried Wesemann, Vorstandsvorsitzender DEVAP e.V.
Adis Ahmetović, SPD
Dr. Fabian Becker, CDU
Paulo Dias, BSW
Maren Kaminski, Die Linke
Swantje Michaelsen, Bündnis 90/Die Grünen
Robert Reinhardt-Klein, FDP
Moderiert wurde die Veranstaltung von Tina Hermes.